Gastbeitrag: Zu Fuß über die Alpen

Gastbeitrag von Christof Herrmann, der auf www.einfachbewusst.de über Minimalismus und Nachhaltigkeit im Alltag und auf Reisen bloggt.

Ich bin im letzten Sommer von meiner Haustür im oberfränkischen Forchheim nach München und weiter über die Alpen bis nach Venedig gelaufen. Für die 963 Kilometer und 29.915 Höhenmeter brauchte ich 52 Tage. Es war eine der aufregendsten Reisen meines Lebens. Die langsame und minimalistische Art der Fortbewegung, die Schönheit und Vielfalt der Alpen und die vielen Begegnungen mit anderen München-Venedig-Wanderern werden mir unvergesslich bleiben. Dass jede Reise auch weniger schöne Momente hat, verschweigt man gern. Heute möchte ich von zehn dieser Momente erzählen.

Foto: Christian Hermann

Dieses Foto zeigt mich auf einer der ersten Etappen beschwingt durchs fränkische Flachland gehen. Doch der Start wenige Tage zuvor verlief alles andere als beschwingt. Ich hatte mir in der Vorbereitungszeit zu viel abverlangt. Am Morgen des geplanten Abmarschs bekam ich so starke Rückenschmerzen, dass ich mir nicht mal mehr die Schuhe binden konnte. Ein Chiropraktiker vollbrachte das Wunder, meine normale Beweglichkeit wiederherzustellen. Ich startete mit einem Tag Verspätung in mein Abenteuer.

 

Zimmer belegt.Foto: Christof Hermann

In Kelheim war die Hölle los. Das Städtchen hat mit seinem schmucken Zentrum, dem Altmühlradweg, dem Donauradweg und dem Kloster Weltenburg einiges zu bieten. Drei Stunden lang lief ich von Unterkunft zu Unterkunft und bekam nur Absagen. Im allerletzten Hotel hatte ich dann doch noch Glück. Die Nacht im Schlafsack an der Donau, die ich mir bereits ausgemalt hatte, konnte ich verschieben.

 

Foto: Christof Hermann

Ich konnte von Glück sagen, dass ich die Nacht nicht im Freien an der Donau verbringen musste. Die unzähligen Mücken und Bremsen machten mir schon am Tag das Leben zur Hölle. Bei der abendlichen Leibesvisitation zählte ich über 50 Stiche.

 

Foto: Christof Hermann

Im Karwendel begleitete mich meine Freundin für ein paar Tage. Auf dem Foto ist sie beim Abstieg vom Schlauchkarsattel zu sehen. Kurz zuvor waren wir nur knapp einem fatalen Unfall entgangen. Holländer hatte beim Aufstieg zum Sattel über uns einen handballgroßen Stein losgetreten und uns nicht gewarnt. Der Brocken flog keinen halben Meter über uns hinweg in die Tiefe.

 

Foto: Christof Hermann

Die Kulisse am Junsee ist traumhaft. Doch wenige Minuten nachdem ich das Foto gemacht hatte, war der Pfad auf einigen Metern maximal 20 cm breit und fiel auf der linken Seite steil in die Tiefe ab. Ich bin nicht ganz schwindelfrei. So schob ich mich Zentimeter für Zentimeter auf meinen Trekkingstöcken gestützt über diese für mich gefährliche Passage. Später erfuhr ich von anderen Wanderern, dass sie mich von weiter oben beobachtet hatten und zunächst befürchteten, ich hätte einen Hexenschuss erlitten.

 

Foto: Christof Hermann

Dieser Wasserfall sorgte lange für Gesprächsstoff unter den München-Venedig-Wanderern. Er lag etwas abseits vom Weg, so dass ich einer der wenigen war, die sich das Wasser nicht direkt aus dem Bach schöpften. Was jedoch kaum einer wusste und erst in den folgenden Tagen die Runde machte: Im Bachbett, im Foto etwa in der linken unteren Ecke, lag ein totes, halb skelettiertes Schaf.

 

Foto: Christof Hermann

Das Spannagelhaus zählte zu meinen liebsten Berghütten. Es ist auf 2531 m in den Zillertaler Alpen gelegen und wird von Hüttenwirt Christoph geführt. Lange saß ich mit anderen Wanderern im urigen Gastraum am Kachelofen, ehe ich mich müde ins Matratzenlager begab. Wie gut hätte ich geschlafen, wäre ich nicht neben einem Profi-Schnarcher gelegen, der im Schlaf ganze Wälder absägte und gegen den nicht mal Ohropax half.

 

Foto: Christof Hermann

Dass ich nicht nur bei strahlender Sonne unterwegs war, zeigt der folgende Auszug aus meinem Tagesbericht, den ich auf dem von Wolken umhüllten Rifugio Coldai schrieb:

“Je höher ich stieg, desto kälter wurde es. Als einziger Schwachpunkt meiner Kleidung erwiesen sich meine Handschuhe. Sie waren viel zu dünn und saugten sich mit dem kalten Regenwasser voll. Als auch noch eisiger Wind über den Kamm pfeifte, konnte ich vor Schmerzen kaum mehr die Wanderstöcke halten. Es fühlte sich an als würden meine Finger mit einer Schere abgeschnitten. Ich musste meine Hände dringend wieder warm bekommen, denn bis zur Rifugio Coldai war es noch eine Stunde. Dann tauchte zwischen den Wolken ein Gebäude auf. Es bestand zum einen aus einem ehemaligen Stall, an dem auf italienisch ‘für alle’ stand, und zum anderen aus einem kleinen, erleuchteten Raum mit der Aufschrift ‘privado’. Im Stall war es zumindest windstill. Ich aß etwas und versuchte vergeblich meine Hände warm zu bekommen. So wagte ich mich zum Privatgemach, klopfe an und trat ein. Zwei Männer standen hinter einem kleinen Tresen und versorgten eine Wandergruppe mit heißen Getränken. Ein offener Kamin spendete Wärme. Keiner der Anwesenden sprach deutsch oder englisch. Ich traute mich nicht etwas zu bestellen, denn ich befand mich nicht in einer herkömmlichen Bar. Nachdem ich den Kindern Schokolade geschenkt habe, schien ich die Herzen der Italiener erobert zu haben. Man reichte mir ein großes Glas Kaffee mit Grappa. Als ich dieses geleert habe, drückte man mir bereits das zweite in die sich erholenden Hände. Glas Nummer drei lehnte ich mit den Worten ‘un altro cafe e grappa e io cantare’ dankend ab, was die Italiener hörbar amüsierte. Als die Wandergruppe zahlte und ging, zückte auch ich meinen Geldbeutel. Doch ich war eingeladen. Erstaunlich wie schnell man sich mit zwei heißen Getränken am Kamin aufwärmt. Die restliche Strecke zur Coldai-Hütte verging schmerzfrei wie im Fluge.”

 

Foto: Christof Hermann

Begegnungen mit anderen Wanderern sind das Salz in der Suppe einer jeden Alpenüberquerung. Wer wie ich alleine startet, aber kommunikativ ist und sich ans Lauftempo anderer anpasst, kann die meiste Zeit in Gesellschaft wandern. Oft war ich tagelang in Gruppen von bis zu acht Personen unterwegs. Durch die gemeinsame Leidenschaft kommt man schnell ins Gespräch. Herkunft, gesellschaftliche Position und Generation spielen keine Rolle. Die Atmosphäre in den Alpen und auf den Berghütten ist sowieso sehr gemeinschaftlich. Trotzdem wurde mir der Trubel manchmal zu viel. Ich sehnte mich nach Ruhe, nach Zeit mit mir selbst, nach der Stille der Bergwelt. Dann trennte ich mich von der Gruppe und ging meine eigenen Wege. Wenn ich dann Stunden oder Tage später plötzlich wieder vor bekannten Gesichtern stand, freute ich mich umso mehr.

 

Foto: Christof Hermann

Auch wenn auf solch einer Fernwanderung der Weg das Ziel ist, erreichte ich nach 52 Tagen Venedig. Trotz Problemen mit verfallenden Palästen und Touristenmassen ist La Serenissima (”die Durchlauchtigste”) immer noch eine der schönsten Städte der Welt. Eines sollte man hier aber nicht tun: Auch nur einen Zeh in den Kanal halten. Ein Mitwanderer rutschte vor meinen Augen aus und landete bis zur Hüfte im Kanalwasser. Die Kleidung trocknete an dem heißen Tag rasch. Aber riechen tat der arme Teufel, ich kann es nicht anders ausdrücken, (nach) Scheiße.

Die Fotos und Berichte zur Alpenüberquerung gibt es ab sofort auch als PDF zum kostenlosen Download.

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