Leipzig: Der Charme des Unfertigen
Leipzig - die im zweiten Weltkrieg großteils zerbombte Stadt, berühmter Messe- und Verlagsort, Ex- DDR Metropole, sie lockt mich schon seit längerem. Und nachdem ich jetzt nicht nur eine Leipzigerin in meinem Bekanntenkreis getroffen, sondern auch noch mit einer anderen zusammengewohnt hat, wird es Zeit, ihr einen Besuch abzustatten.
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Der erste Eindruck: Ein Schock für mich als Wienerin! „Zum arabischen Coffee Baum“, so heißt das erste Element des Schreckens, und ist angeblich das weltweit älteste erhaltene Kaffeehaus. Gebaut um 1500, gegründet 1694 und mit einer Stammgäste-Liste wie Goethe, Lessing, Liszt, Wagner, Schumann, Napoleon, … lässt es die Wiener Kaffeehäuser ganz schön jung aussehen. Nachzuprüfen ist die Geschichte im Museum in der dritten Etage des Hauses. Anders als die Wiener „Kollegen“ liest sich die Leipziger Variante zwar gut im Reiseführer, ist aber wirklich nur noch touristische Zone – die Herden amerikanischer Reisender vor dem Eingang sowie die künstlichen Pflanzen drinnen sprechen für sich. Zum Verdauen brauch ich jetzt jedenfalls erst einmal einen Kaffee…
Doch Leipzig macht Wien nicht nur in Sachen Kaffeehaus-Tradition Konkurrenz, auch in Sachen Musik hat die deutsche Stadt viel zu bieten: Johann Sebastian Bach oder Felix Mendelssohn Bartholdy haben hier gewirkt, während die Oper Leipzig mit dreihundertjähriger Tradition als drittältestes bürgerliches Opernhaus nach Venedig und Hamburg punkten und sich mit Namen wie Richard Wagner oder Gustav Mahler rühmen kann. Mich – die Nicht-Opernliebhaberin – begeistert vor allem das Außen: Tagsüber eher nüchtern, leuchtet das heutige Gebäude, das nach der Zerbombung im Zweiten Weltkrieg 1960 nach dem Muster des Vorgängerbaus wieder errichtet wurde, im festlichen Glanz.
Nachdem aller guten Dinge drei sind, erinnert mich noch etwas in Leipzig an meine Heimatstadt Wien: Das viele Grün. Neben den Parks gibt’s vor allem viele Straßenbäume – mit 57732 (laut Wikipedia) sogar mehr als registrierte Parkbäume. 35% davon sind Linden – kein Wunder, kommt doch der Name Leipzig von eben diesem Baum (abgeleitet von urbs Libzi , was soviel heißt wie Stadt der Linden).
Nach all den Gemeinsamkeiten lass ich Wien aber wirklich hinter mir, schließlich hat Leipzig einen durchaus besonderen Charakter: Die Stadt hat einen ganz eigenen Charme und bezaubert mit ihrer Nicht-Perfektion, all dem Unfertigen, den abrissreifen Gemäuern, sehr vielen Baustellen und hoher Graffiti-Dichte. Wenn man dafür offen ist, wird man nicht umhin kommen, über Ruinen oder DDR-Relikte zu stolpern – und genau dieses Nicht-Fertige liebgewinnen.
Jetzt nach den hektischeren Tagen der Leipziger Buchmesse, in denen alles bebt und „wurlt“, ist wieder Zeit, in der Leipziger Innenstadt herumzubummeln: Passagen mit Läden, Cafés und Lokalen wie die Mädler-Passage, Speck-Hof , Barthels Hofoder die Hauptbahnhof Promenade laden zum Spazieren ein und bringen einen direkt zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt. Ein besonderer – aber sehr touristischer – Tipp zum Ausruhen für die kommenden Frühlingstage: Das Barfußgässchen mit seinen Restaurants und Cafés sind ideal, um sich – draußen sitzend – von den Sight-Seeing-Strapazen zu erholen. Was man hier aber nicht erwarten darf sind Einheimische, denn die Innenstadt von Leipzig ist touristische Zone. Alternativ dazu lädt die Buslinie 89 ein, bequem durch die Innenstadt zu fahren. Etwas weiter wandern muss man hingegen, um eines der Wahrzeichen der Stadt, das Völkerschlachtdenkmal, zu sehen. Der Bau, der derzeit ziemlich vom Verfall bedroht wird, soll an den Sieg über Napoleons Armeen im Jahr 1813 erinnern.
Ein Muss für alle, die sich nicht schon untertags verausgabt haben, ist das Leipziger Nachtleben: Neben der höchsten Kabarettdichte (auch außerhalb der alljährlichen „Lachmesse“), den zahlreichen Kinos und Theater spielt sich überall das alltägliche kulturelle Leben ab. Die Kreativität der Stadt ist überall zu spüren und hinterlässt positive Spuren. In der Gottschedstraße, der Karl-Heine-Straße, die sich mit der Schaubühne Lindenfels und anderen Lokalen langsam zum Künstlerviertel mausert, und der Südvorstadt entlang der Karl-Liebknecht-Straße reihen sich Restaurants, Bars, Cafés und bunte Läden aneinander. Gerade in Connewitz und Teilen der Stüdvorstadt ist die alternative Szene legendär: Das ehemalige Kino UT Connewitz wurde eine für alle Kulturformen genutzte Einrichtung. Das „Tanzcafé Ilses Erika“ im Haus er Demokratie ist mit seinen Clubabenden und -konzerten eine der bekanntesten Indie-Adressen in Ostdeutschland. Vielfältige kulturelle Veranstaltungen wie Programmkino, Lesungen oder kleinere Konzerte finden außerdem in der naTo statt. Als Studentenstadt gibt es in Leipzig auch Studentenclubs: Der Größte Europas hat sich Ende der 1970er Jahre in der Moritzbastei - kurz MB genannt – angesiedelt, einer ehemaligen mittelalterlichen Festungsanlage.
Dort kann man sich auch eine typische Leipziger Gose gönnen: Ein aus Goslar stammendes obergäriges Bier, das zu DDR Zeiten eher in Vergessenheit geriet, jetzt aber wieder gebraut wird. Na dann, Prost: Auf Leipzig, schließlich ist das Perfekte ohnehin meistens langweilig!
Erstveröffentlicht auf tripwolf am 4. Mai 2010