Mein 24-Stunden-Crashkurs als Älplerin
Etliche sind nie mehr heimgekehrt, wurden von einer Mutterkuh zerquetscht, fielen in Felsspalten, heirateten Bergbauern oder -bäuerinnen, wurden von Stein und Blitz erschlagen oder ruhen selig in einem Lawinenkegel. (aus “Neues Handbuch Alp”)

Schöner Aufstieg, aber ach, so anstrengend! Foto: Doris
“Bi Djitho – Tommes de Chèvre”: Hätte auf dem Schild “5 Minuten zum Paradies” gestanden, ich hätte nicht glücklicher sein können. Ich war doch wirklich in Kürze am Ziel. Unendliche zwei Stunden des Wanderns in 34 Grad im Schatten waren vorbei. Zugegeben, ich hätte mir einen günstigeren Tag zum Aufstieg zur Alphütte Bi Djitho aussuchen können …

Erster Blick auf Bi Djitho, ja, genau, dort oben – endlich! Foto: Doris
“Du bist den steilsten Weg hoch”, begrüßte mich da auch schon Daniela, ihr Lebensgefährte Giamba versuchte mir meinen schweren Rucksack abzunehmen. Sonnengegerbt, mit Strohhut und in ausgeleierten Arbeitsklamotten standen sie vor mir, die Bekannten aus Wiener Couchsurfing & Spotted-By-Locals-Zeiten, die ich als Stammgäste bei jeder Party in Erinnerung hatte. Ich hätte sie wohl nicht wieder erkannt, so in ihrer Bauernkluft. Drei Monate wohnten sie bereits auf der Hütte in den Schweizer Alpen über Fribourg, zirka vier Stunden von Zürich entfernt.

Pflichtlektüre für die Alp. Foto: Doris
Als Selbstversorger hüteten sie auf rund 1700 Meter Esel, Kühe, Hühner und Ziegen, nahmen Gäste auf und machten Ziegenkäse, den sie an die umliegenden Restaurants verkauften. Einige Monate zuvor hatten sie mich bereits eingeladen, sie doch in der Abgeschiedenheit zu besuchen. Natürlich habe ich mich nicht zweimal darum bitten lassen.

Bi Djitho in voller Pracht. Foto: Doris
Schlafen, faulenzen, essen, so hatte ich mir die Zeit auf der Alp vorgestellt – Alp wohlgemerkt, denn nur Leute aus dem Ostalpenraum wie ich nennen die Hochgebirgswiesen Alm. “Hier kannst du so richtig entspannen”, meinte Dani, die durch die Arbeit offensichtlich nicht nur Muskeln, sondern auch schier unglaubliche Ruhe und Zufriedenheit gewonnen hatte. “Bei so einem Fernsehprogramm keine Frage”, ergänzte der gebürtige Italiener Giamba, und schaute glücklich auf die Berglandschaft vor uns.

Schöne Aussicht = Fernsehen! Foto: Doris
“Derzeit haben wir nicht mehr so viel zu tun”, erklärten mir die Beiden, während wir uns über die von mir mitgebrachten Trauben und Nektarinen stürzten. Frisches Obst und Gemüse ist ein seltener Luxus auf der Alp.

Die Vorfreude auf die ersten frischen Heidelbeeren ist groß. Foto:Doris
Im Juni war es noch ganz anders: Damals, als sie wegen des späten Sommerbeginns die Kühe noch im Schneegestöber herauf treiben mussten. Als sie Zäune bauen sowie die ersten Tage ständig stundenlang auf und ab marschieren mussten, um Restaurants aus der Nachbarschaft als Abnehmer für ihren Käse zu gewinnen. Jetzt gehen sie nur noch einmal die Woche zu ihrem Auto, das mittlerweile 1,5 Stunden entfernt abgestellt ist, um die rund 80 Stück Ziegenrohmilchkäse auszuliefern.

Täglich (oder fast täglich) bereiten Dani & Giamba Käse zu. Foto: Doris
Entspannung also. Gut, nach dem hektischen Sommer war ich reif für die Alp!
Doch es sollte anders kommen …
7.15 Uhr: Das Glockengeläut weckt mich. Nein, ich will doch noch nicht aufstehen, ich will meine Ruhe. Was mir beim Aufstieg noch wie das schönste Konzert erschienen ist, nervt mich gerade ungeheuerlich! Um die Hälse der Tiere hängen Glocken, groß, klein, hell, dumpf, laut, leise – und die bimmeln nun einmal, wenn sie sich bewegen. So wie jetzt. Aber an Weiterschlafen ist ohnehin nicht zu denken. Ich muss aufs Klo – und das ist die Treppe hinunter im Stall zu finden.

Begrüßungskomittee – vor dem WC. Foto: Doris
7.20 Uhr: Unten werde ich schon begrüßt – nicht nur von den Hühnern, die mir gackernd entgegen kommen und auf Futter hoffen. Dani, Giamba und ihre “Zusennerin” auf Zeit, Chiara, starren auf eine der sechs Ziegen. “Sie hat eine blutende Wunde – schau lieber nicht hin”, klärt mich Dani auf. Ausgerechnet die Schwerste der Ziegen – eine weiße Schönheit namens Engel – hat eine offene Fleischwunde an ihrem Euter. Herkunft unerklärlich und rätselhaft. Vor allem, weil sie bereits vor ein paar Tagen eine ähnliche Wunde hatte. Der Besitzer ist bereits verständigt.

Danis Glücksbringer, die brauchen wir heute. Foto: Doris
7.30 Uhr: Das Frühstück fällt eher kurz aus. Zu blank liegen die Nerven.
8.15 Uhr: Endlich läutet das Telefon: Der Bauer. Wir sollen Engel zum La Berra Gipfel bringen, wo die Bäuerin mit dem Anhänger wartet, und die Ziege hinunter ins Tal bringt.

Kumm, kumm – alle drei versuchen, die Ziege nach oben zu bewegen. Umsonst. Foto: Doris
8.45 Uhr: Unsere kleine Truppe zieht los. 15 Minuten dauert der Weg bis zu La Berra, um 9.15 Uhr ist das Treffen mit der Bäuerin ausgemacht. Wir haben einen Puffer einkalkuliert. Wie notwendig der ist, zeigt sich nach den ersten paar Metern: Engel bewegt sich nämlich keinen Schritt vorwärts. “Kumm, kumm”, die Lockrufe von Dani und Giamba versacken im Leeren. Der Versuch, ihre weiße Gefährtin Edu als Lockvogel einzusetzen scheitert genauso wie die Idee, sie mit Futter etwas vorwärts zu bewegen. Dani und Chiara haben in der Zwischenzeit die noch immer offene Wunde von Engel verbunden. Mehr schlecht als recht, doch immerhin gelingt es so etwas besser, die lästigen Fliegen vom Hinterteil der Ziege abzuhalten.

Ziege und Dani sind verzweifelt. Foto: Doris
9.15 Uhr: Statt auf dem La Berra Gipfel sind wir noch immer dort, wo wir losgezogen sind: Engel hat sich keine 50 Meter von der Hütte wegbewegt. Dani ruft die Bäuerin an. Vergeblich, kein Empfang. Fünf Minuten später kommt sie endlich durch: Mit dem Auto kann die Bäuerin nicht näher kommen, aber sie läuft uns zu Fuß entgegen. Dani setzt sich hilflos auf den Boden. Immer wieder streicheln die Drei das Tier, das offensichtlich vor Schmerzen wie gelähmt ist. Anzumerken ist ihm aber sonst nichts davon. “Ziegen zeigen ihre Gefühle nicht”, klärt mich Dani auf, die ein Jahr lang auf einer Ziegenfarm in Österreich gearbeitet hat, “sie können quietschvergnügt wirken und im nächsten Moment tot umfallen.” Soweit kommt es zum Glück nicht.
9.30 Uhr: “Ich rufe den Tierarzt”, die Bäuerin ist den Abhang herunter gelaufen und braucht keine zwei Sekunden, um die Entscheidung zu treffen, “er soll hierher kommen und sich um Engel kümmern. In zwei Stunden ist er hier!”

Normalerweise lernt Chiara unter Giambas Aufsicht in diesen Tagen, Käse zu machen. Heute nicht. Foto: Doris
11.30 Uhr: Kein Tierarzt in Sicht.
12.30 Uhr: Vom Tierarzt fehlt noch immer jede Spur. Auf der Alp herrschen andere Zeiten.

Blick in die Küche der 2003 neu gebauten Hütte. Die Alte war abgebrannt. Foto: Doris
13 Uhr: Wir sitzen am Mittagstisch und diskutieren gerade, ob wir nicht noch einmal mit der Bäuerin sprechen sollten. Engel ist in der Zwischenzeit im Garten niedergesunken, dort, wo die Ziegen normalerweise nicht hinkommen. Erschöpft nach dem stundenlangen Stehen hat sie die Kraft verlassen. Giamba hat sie fürsorglich mit einem Handtuch abgedeckt.

Engel zugedeckt und mit ihren Kräften ziemlich am Ende. Foto: Doris
13.15 Uhr: Die Bäuerin ruft an. Ob denn der Tierarzt schon hier gewesen wäre!? Einige Minuten später die Hiobsbotschaft via Telefon: Er kommt, aber es dauere noch so zwei Stunden. Für uns steht fest: Der heutige Mittagsschlaf – eines der Highlights der langen Arbeitstage – ist gestrichen. Stattdessen ist Warten angesagt.

Wir stehen unter Beobachtung. Foto: Doris
15.45 Uhr: “Da ist er”, Dani hat den Tierarzt erspäht, der sich samt nervös knurrendem Vierbeiner von La Berra zu uns hinab bewegt. Das laute Gebell des Hundes übertönt alles und lässt auch den Rest der bisher recht ruhigen Tiere zusammenlaufen. Ein fachmännischer Blick auf Engels Hinterteil und schon packt Onkel Doktor seine Geräte aus: Spritzen, Nähzeug, Antibiotika – vieles klirrt und leuchtet silbern in der Sommersonne. Die Patientin wird auf den Boden gedrückt, auf die Seite gelegt. Dani hält einen Huf, Giamba nimmt den Kopf des Tieres zwischen seine Hände. Chiara spielt Operationsschwester und schaut interessiert dem Arzt bei jedem Handgriff über die Schulter. Ich halte mich eher am Rande des Geschehens, ich kann einfach nicht hinschauen.

Die Operation beginnt. Foto: Doris
Es folgt eine schier endlose Operation, begleitet vom herzzerreissenden Geächz und Gestöhn von Engel, dem immer lauteren Gebell des Arzthundes und natürlich dem obligaten Glockengewirr der anderen Tiere. Nein, Ruhe sieht anders aus!

Der Arzthund hört und hört nicht auf zu bellen. Foto: Doris
17 Uhr: Unzählige Nadelstiche später ist es endlich vorbei. Fünf Tage lang muss man fünf Milliliter Antibiotikum in den Muskel von Engel spritzen, so die Anweisung. “Aber ob die Wunde gut verheilt, das kann ich nicht sagen”, macht der Arzt wenig Hoffnung, “doch schließlich ist es auch nur ein Nutztier.” Ich sehe, wie Dani bei diesen Worten zusammenzuckt. Für sie sind Engel und die Anderen längst mehr als “nur” Nutztiere.

Die Operation dauert gefühlte Stunden. Foto: Doris
17.15 Uhr: “Wir machen das immer so”, ist Giamba nach dem angespannten Tag schon wieder zum Scherzen aufgelegt, “wenn wir neue Gäste haben, dann sorgen wir für Action.” Mir hätte sie gern erspart bleiben können, um ehrlich zu sein.

So sieht Erleichterung aus! Foto: Doris
Die Aufregung ist vorbei. Der Alltag auf der Alp kann weitergehen: Die Ziegen müssen gemolken werden, der Stall ausgemistet und Abendessen zubereitet. Gegessen wird bei Kerzenschein – Elektrizität gibt es schließlich auf der Hütte nicht. Um 21.30 Uhr sind wir im Bett und innerhalb von Sekunden eingeschlafen. Das Sonnenuntergang- und Sterne-Schauen am klaren Nachthimmel hebe ich mir für einen der nächsten Tage auf.
Heute bin ich einfach nur müde von diesem 24-Stunden-Crashkurs als Älplerin!

Unser gemütliches Bettenlager schreit an diesem Abend besonders laut nach mir. Foto: Doris
PS: Als ich zwei Tage später die Alp verlassen habe, war Engel schon wieder recht munter. Die Naht scheint gut zu verheilen, und sie ist bereits wieder mit den anderen Ziegen auf der Wiese.
Wer auch gern mal auf der Alp übernachten möchte, kann sich bei Dani & Giamba melden: 0041/78 700 01 88. Sie sind voraussichtlich noch bis Ende September in Bi-Dijtho, vorausgesetzt, das Wetter spielt mit.